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Dienstag, 24. März 2015

Arme reiche Kirche

Resümee nach 40 Jahren im Kirchendienst

von Hans Löhr, Pfr. i.R.

So viel Selbstbewusstsein muss sein: Weder Apple noch Google, weder Mercedes noch BMW noch sonst irgendein Konzern haben ein so gutes Angebot wie die Kirche: Glaube, Hoffnung, Liebe. Aber auch so viel Selbstkritik muss sein: Kaum ein Anbieter hat solche Probleme, die Menschen von der Qualität und dem Nutzen seines Angebots zu überzeugen wie die Kirche. Über 30.000 Evangelische haben 2014 die Kirche in Bayern verlassen. So viele wie nie zuvor. Und von denen, die noch bleiben sind es weniger als 20 Prozent, die das Angebot überhaupt kennen und nutzen. Der an der Bibel und den reformatorischen Bekenntnissen orientierte Glaube, zu dem die Kirche einladen soll, wird von über 80 Prozent ihrer Mitglieder nicht mehr geteilt. Andererseits hat die Evangelische Kirche in Deutschland allein 2014 über fünftausend Millionen Euro an Kirchensteuern eingenommen. 2015 werden es voraussichtlich noch mehr sein. Ebenfalls so viel wie nie zuvor.

Allein diese Zahlen zeigen, dass da etwas nicht stimmen kann. Die Kirche, so hat man schon in den 1990er Jahren durch Umfragen festgestellt, hat ein massives Problem mit dem Glauben, nicht nur bei ihren Mitgliedern, sondern auch bei vielen ihrer Mitarbeitenden. Aber sie hat auch das Geld, trotzdem so weitermachen zu können wie bisher als gäbe es dieses Problem nicht. Der Kirchensteuer sei Dank! Bequemer kommt keine andere Kirche in der Welt an das viele Geld als in Deutschland und Skandinavien. Aber tut denn die Kirche nicht auch viel Gutes besonders im Bereich der Diakonie? Doch, das tut sie mit dem Geld des Staates, mit dem Geld aller Steuerzahler ob Christen, Muslime oder Atheisten, das sie zusätzlich (!) noch für soziale und diakonische Aufgaben bekommt. Das tun aber auch andere Träger und Verbände wie die Arbeiterwohlfahrt und das Rote Kreuz. Was aber nur die Kirche tun kann, ist, den „Glauben“ zu wecken und zu stärken, „der durch die Liebe tätig ist“.
Am deutlichsten zeigt sich das Problem mit dem Glauben an den Zahlen der Gottesdienstbesucher. Der Schwund hat längst die Landgemeinden erreicht auch in Westmittelfranken, das traditionell als das evangelische Kernland in Bayern angesehen wird. Gerade mal drei bis fünf Prozent der Gemeindeglieder auf dem Land besuchen an normalen Sonntagen einen traditionellen Kirchengottesdienst. In den Städten sind es nur noch zwischen einem und zwei Prozent. Anders gesagt, 95 bis 99 Prozent bleiben zu Hause. Das Bild wird nicht viel freundlicher, wenn man noch die Kindergottesdienste hinzugerechnet. Im Gegenteil. Nur noch in 720 von 1541 Kirchengemeinden in Bayern findet ein Kindergottesdienst statt oft mit nur wenigen Kindern und von mäßiger Qualität. Die zeitgleiche  „Sendung mit der Maus“ ist für die meisten Kinder einfach attraktiver. Dabei gehört zu den Kernaufgaben von Kirche, gerade den Kindern eine Heimat für ihren Glauben zu bieten, sie dabei zu begleiten, zu ermutigen und zu stärken. Außerdem sind sie die Zukunft der Kirche. Nur wie soll eine Kirche Zukunft haben, wenn sie die Kinder kaum noch erreicht? Der Religionsunterricht gleicht dieses Defizit nicht aus, da er hauptsächlich der Wissensvermittlung dient.
Auf diesem Hintergrund verwundern die Worte, die der Vorgänger im Amt des Landesbischofs, Dr. Johannes Friedrich, zu seinem Nachfolger, Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm, gesagt hat: »Ich übergebe dir eine Kirche in sehr gutem Zustand.“ Nun ja, es kommt wohl darauf an, welcher Aspekt von Kirche gemeint ist. Die Einnahmen sind tatsächlich in sehr gutem Zustand ebenso die Organisation des Kirchenbetriebs in der bayerischen Landeskirche. Viele kirchliche Gebäude sind renoviert. Es wurden viele Arbeitsplätze geschaffen, die Rechtssammlung der Kirche mit ihren zahllosen Gesetzen und Vorschriften platzt aus allen Nähten und es gibt kaum Skandale. Doch das macht Kirche nicht aus. In allen diesen Bereichen sind andere Organisationen auch gut.

Bleiben wir beim Thema Gottesdienst. Die Landessynode hat sich 2013 in Nürnberg damit befasst. Dabei kamen auch zeitgemäße Gottesdienstformen in den Blick. Doch bei der Formulierung des Ergebnisses hat die Synodalen der Mut verlassen. Nun heißt es: Der traditionelle Kirchengottesdienst sei das „Standbein“. Ein hin und wieder angebotener, alternativer und zeitgemäßer Gottesdienst sei  das „Spielbein“. Dieser dem Fußball entlehnte Vergleich hinkt leider im wahrsten Sinn des Wortes, weil das „Standbein“ an erheblichen Durchblutungsstörungen leidet und kein Trainer der Welt einen Spieler mit einem solchen Bein aufstellen würde. Und schließlich ist es das Spielbein, das die Tore schießt. Das gilt auch für den Gottesdienst. Wo in einzelnen Gemeinden regelmäßig ein professionell gemachter, zeitgemäßer Gottesdienst angeboten wird, schnellen die Teilnehmerzahlen in die Höhe. Fünfmal mehr Besucher als sonst sind keine Seltenheit. Das zeigt, dass das Interesse an einem Gottesdienst, der die Bedürfnisse der Besucher aufnimmt, durchaus vorhanden ist.
Gleiches gilt auch für innovative Kindergottesdienste. Mit viel Liebe, Fantasie, Aufwand und Kreativität lassen sich Kinder auch heute noch begeistern und vom Fernseher und der Spielekonsole weg locken. Doch Gemeinden, die solche Angebote machen, orientieren sich bewusst nicht an den überkommenen Konzepten der Landeskirche, sondern gehen eigene Wege.

Für eine Übergangszeit können der traditionelle und der zeitgemäße Gottesdienst durchaus nebeneinander bestehen, auch wenn dieses doppelte Angebot für die Mitarbeitenden einer Gemeinde eine große Herausforderung darstellt. Die Realität aber ist, dass wer zum Beispiel in Nürnberg am Sonntagvormittag einen zeitgemäßen Gottesdienst besuchen will am ehesten bei den Freikirchen fündig wird. Traditionelle Gottesdienste mit geringen Besucherzahlen werden hingegen zuhauf angeboten und zu erheblichen Kosten, wenn man den finanziellen Gesamtaufwand für einen Gottesdienst auf jeden einzelnen Besucher umrechnet. Aber, wie gesagt, Geld ist ja da.
Damit fehlt der Innovationsdruck, der Betriebe und Unternehmen zwingt, Änderungen vorzunehmen, wenn die Nachfrage der Kunden sinkt und die Kosten steigen. Nahezu alle anderen Kirchen in der Welt außerhalb Deutschlands teilen von Anbeginn die wirtschaftlichen Unsicherheiten und Herausforderungen, vor die auch ihre Mitglieder gestellt sind. Doch auch der jetzige Landesbischof verteidigt vehement das deutsche Kirchensteuersystem mit Verweis auf seine Erfahrungen in den Kirchen der USA, die auf die direkte Finanzierung durch ihre Mitglieder angewiesen sind. Er sagt, dass die Kirchensteuer „ein Segen“ sei, damit Kirche ihren Auftrag erfüllen könne. Da drängen sich drei Fragen auf: Warum verliert die bayerische Landeskirche trotzdem und in großem Umfang Mitglieder, wenn der Auftrag doch lautet, Menschen für die gute Nachricht von Jesus Christus zu gewinnen? Warum hat sie dieses gravierende Glaubensproblem? Und warum haben bei den angeblichen Vorzügen nicht auch alle anderen Kirchen in der Welt längst das Kirchensteuersystem samt seinem Segen für sich entdeckt?  
Wie gesagt, das Geld ist ja da. Allerdings dürfen nicht die Gemeinden die Beiträge ihrer Mitglieder vereinnahmen. Sie werden zentral an die Kirchenleitung abgeführt, von wo ein Teil davon den Gemeinden unabhängig von ihrer jeweiligen Leistungsfähigkeit zugewiesen wird. Eine Auskunft darüber, wie viel Kirchensteuerertrag in einer Gemeinde zusammenkommt, wird nicht erteilt. Die Kirchensteuern, die aus den Gemeinden kommen, werden auch dafür verwendet, die zentralen Verwaltungsstellen in den Dekanatsbezirken und in München ständig auszubauen. Begründet wird dies damit, dass die Kirchengemeinden von Verwaltungsarbeit entlastet würden. Tatsächlich nehmen aber die Bestimmungen ständig zu, die zu steigender Verwaltungsarbeit führen. Außerdem geht mit der Verlagerung von Kompetenzen der Kirchengemeinden an zentrale Verwaltungsstellen ein schleichender Verlust an Selbstständigkeit und Selbstverantwortung einher. Die Gemeindediakonie, die Gabenkassenverwaltung, die Mitgliederverwaltung, die Verwaltung der Liegenschaften – alles wurde zentralisiert. Der neu geschaffene, zentrale „Pfarrhausfond“ zum Beispiel hilft zwar den Gemeinden, Renovierungs- und Baumaßnahmen leichter zu finanzieren. Gleichzeitig geht aber die Verantwortung der Gemeindeglieder für ‚ihr‘ Pfarrhaus und damit auch die Identifikation verloren. Wofür früher die Gemeindeglieder um Unterstützung gebeten und dazu überzeugt werden mussten, reicht jetzt ein Antrag an die jeweilige kirchliche Baubehörde. Allerdings führt das auch zu Kuriositäten, dass zum Beispiel nur die Schauseiten eines Pfarrhauses gestrichen werden, die nicht einsehbaren Fassaden-Wände aber weiterhin abblättern dürfen. Von der Landeskirchenzentrale in München ist derartiges nicht bekannt.

Wo bleibt bei alledem die Theologie? Wo bleiben die Theologieprofessoren an den Hochschulen und in den Fakultäten? Sie kosten die Steuerzahler viel Geld. Aber ihr Beitrag zur Lösung der gravierenden Probleme, mit der die Kirche zu kämpfen hat, ist kaum wahrnehmbar. Da sich die meisten von ihnen am bestehenden Zustand und am Hergebrachten orientieren, sind sie Teil des Problems und nicht der Lösung. Doch als „heilige Kühe“ der Landeskirche sind sie unantastbar, auch wenn sie kaum etwas zum Glaubensleben der Gemeindeglieder und zur Erneuerung der Kirche beitragen. Gerade aber die Ausbildung des Pfarrernachwuchses bedürfte einer grundlegenden Reform, aus der hervorgeht, was für die Ausbildung zum Pfarrdienst heute Vorrang haben muss und was demgegenüber nachrangig ist. Auch die Damen und Herren Theologieprofessoren sind, wie auch der Landesbischof, die Regionalbischöfe, die Oberkirchenräte, Dekane, das große Heer der nichttheologischen Angestellten und nicht zuletzt die Pfarrerinnen und Pfarrer Dienstleister der Gemeinden und nicht ihre Herren. Jesus sagt dazu: »Die Herrscher der Völker, unterdrücken ihre Leute und lassen sie ihre Macht spüren. Bei euch muss es anders sein! Wer von euch groß sein will, soll euer Diener sein.« (Markus 10)

Was also wäre zu tun? Eine unvollständige und auch verbesserungsbedürftige Liste könnte so aussehen:
1. Das Glaubensthema muss wieder in den Mittelpunkt aller kirchlichen Tätigkeiten gerückt werden. Alles andere muss sich dem unterordnen. Dabei geht es nicht um bürgerliche Moral oder säkulare Sozialethik. Es geht um die persönliche Glaubensbeziehung zwischen Gott und dem Einzelnen, wie sie Jesus gelebt und allen, die ihm nachfolgen wollen, ans Herz gelegt hat. Ein solcher Glaube trägt, ermutigt und heilt auch heute. Er fordert aber auch heraus, dass sich Christen in diese Welt einbringen und sich im Großen wie im Kleinen für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung einsetzen.
2. Die Angebote von Kirche bzw. Kirchengemeinden müssen sich an den Bedürfnissen und Interessen der Menschen von heute orientieren und nicht an denen der Pfarrerinnen und Pfarrer. Maßgeblich ist die Frage, die Jesus gestellt hat: »Was willst du, dass ich dir tun soll?«
3. Menschen heute erwarten allgemein von Angeboten gute Qualität. Kirche hat das beste Angebot. Dem muss auch beste Qualität bei der Vermittlung und Darbietung entsprechen.
4. Evangelische Gemeinden müssen sich wieder mehr Selbstverantwortung zutrauen und sie sich auch nehmen. Sie sollten die finanziellen Beiträge ihrer Mitglieder selbst erheben und selbst darüber entscheiden, wofür sie verwendet werden sollen. Sie sollten auch für Personal und Liegenschaften Selbstverantwortung übernehmen und entscheiden, welche Hauptamtlichen und welche Gebäude sie sich noch leisten können.
5. Damit einhergehend muss der Zentralismus und die schleichende Hierarchisierung in der Kirche der Reformation wieder zurückgedrängt werden.
6. Die evangelische Kirche darf sich über ihren tatsächlichen Zustand nicht länger in den Kirchensteuerbeutel lügen. Sie muss akzeptieren, dass der gegenwärtige Kirchenbetrieb ohne die Kirchensteuer nicht mehr funktioniert und das ganze System wie ein Kartenhaus zusammenbrechen wird, wenn dieses Finanzierungsmodell aus welchen Gründen auch immer entfallen wird.
7. Die Kirchengemeinden und ihre Mitglieder dürfen nicht darauf hoffen, dass die gegenwärtigen Probleme der Kirche mit Reförmchen von oben behoben werden können. Notwendige Veränderungen müssen in den Ortsgemeinden, in den Kirchenvorständen und bei den Pfarrerinnen und Pfarrern beginnen.
8. Die völlige Trennung von Kirche und Staat muss, wie in den meisten anderen Ländern, auch in unserem Land angestrebt werden. Es ist besser, wenn die Kirche von sich aus dieses Angebot macht, als wenn ihr die Trennung eines Tages aufgezwungen wird.

Angesichts der vielen Kirchenaustritte sprach der Landesbischof kürzlich davon, dass unsere evangelische Kirche wieder eine „Erweckung“ brauche, dass also sich viele Menschen in unserem Land, die der Kirche gegenüber gleichgültig bis abweisend sind, sich für den Glauben und die Ortsgemeinde neu begeistern lassen. Leider kann man eine solche „Erweckung“ nicht einfach machen. Man muss dafür mit Geduld und Hingabe beten und dann für dieses Gebet mit Geduld, Hingabe und Professionalität arbeiten.

So viel Selbstbewusstsein muss sein: Weder Apple noch Google, weder Mercedes noch BMW noch sonst irgendein Konzern haben ein so gutes Angebot wie die Kirche: Glaube, Hoffnung, Liebe. Der Auftrag der Kirche ist es, dieses Angebot den Menschen bekannt zu machen und sie zu einem sinnvollen und erfüllten Leben einzuladen. Doch dazu muss sich die Kirche grundlegend erneuern. Wie sonst will man in zwei Jahren guten Gewissens 500 Jahre Reformation feiern?


Hans Löhr, Pfarrer i.R., zuvor Gemeindepfarrer in Röthenbach an der Pegnitz, Studentenpfarrer an der Universität München, Leiter des evangelischen Münchenprogramms eMp und zuletzt Gemeindepfarrer in der Pfarrei Sommersdorf-Burgoberbach und Thann.

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